Kritik zur Eröffnungsvorstellung der NBKiel im Schauspielhaus am 10. April 1921

Schauspielhaus. Eröffnung der Kieler Niederdeutschen Bühne.

Kieler Zeitung, 11.04.1921

„So haben wir sie denn nun! Der 10. April 1921 wird späteren Geschlechtern in der Geschichte des Kieler Theaters, vielleicht auch in der Historie des niederdeutschen Dramas und der Niederdeutschen Bühne als ein bemerkendwertes Datum erscheinen.

Wenn…….Denn es sind ein paar „Wenn und Aber“ dabei. Über sie zunächst ein paar Bemerkungen.

Es wäre verhängnisvoll, wenn sich das junge niederdeutsche Drama und die noch jüngere niederdeutsche Schauspielkunst unbedacht zu sehr in das Fahrwasser des hochdeutschen Dramas unserer Zeit und seiner Darstellungsweise begeben würden. Diese Gefahr ist freilich sehr schwer zu vermeiden. Das heutige niederdeutsche Drama hat – außer der Sprache bisher wenig ganz Ursprüngliches aufzuweisen: es sei denn Boßdorfs „Fährkrog“ und Wagenfelds grandioser „Luzifer“, dieser in ganz ausgesprochener Weise.

Und auch die Darstellung steht bisher vielfach im Schülerverhältnis zu der hochdeutschen Schauspielkunst. Es kommt hinzu, dass, wie die Hamburger Niederdeutsche Bühne, auch ihre Kieler Jüngerin auf die vorhandenen städtischen Bühnen angewiesen ist. Nun mag es ja so scheinen, als sei für das hochdeutsche Drama eine neue Blütezeit angebrochen. Wer schärfer zusieht, hält das für eine Täuschung. Die Triebfedern der fieberhaften Lebendigkeit des heutigen Theaterbetriebes sind: Theatromanie und Histrionismus; Erscheinungen der Spät- und Verfallzeiten. Wer gab in letzter Zeit den Ton an? Irgendein Dramatiker? Durchaus nicht, wenigstens kein deutscher. Reinhard war der Hexenmeister. Aber wie oft hat er durch sein leidenschaftliches Zuviel die Abgeschlossenheit des Kunstwerks durchstoßen?  –  Alter und Jugend aber können keinen dauernden Pakt miteinander schließen.

In wie starker Abhängigkeit die niederdeutsche Bühnendichtung bisher von der modernen Dramatik stand, bewiesen auch die drei Einakter, die die Kieler Niederdeutsche Bühne zu ihrem Debut gewählt hatte. Sie behandeln sämtlich das Geschlechtsverhältnis von Mann und Frau, ein Thema, das von der modernen Dramatik viel zu wichtig genommen und beinahe ausschließlich behandelt wird. In ihren Mittelpunkt gehören eigentlich ganz andere Dinge. Wer das nicht glauben will, vergleiche einmal die Dramen der Griechen aber auch die Shakespeares mit den neueren Tragödien. Und er vergleiche vor allem, wie sich die Auffassung der Frau bei den Dichtern im Laufe der Zeit verändert hat. Die letzte Aufrichtigkeit fehlt heute, und ist sie einmal da, gibt es eine Sensation oder einen Skandal. Man stelle sich vor, mit was für Gesprächen die Bürger Athens ihr Theater verließen und beurteile dann die Zweifelsfrage moderner Bürger, die man nach einem Wedekind, Strindberg, Shaw oder Hasencleverabend oft hören kann: „Darf ich dieses Stück meine Tochter, meine Schwester, meine Braut sehen lassen?“

Es soll damit nicht gesagt werden, dass Gorch Fock seine Schauspiele „Doggerbank“ und „Cilli Cohrs“ nur des erotischen Reizes halber geschrieben habe. Aber schwerlich wären sie ohne Vorbilder der modernen Dramatik entstanden. Die wilde Katze, die im ersten Schauspiel die Männer aufeinanderhetzt und ihren simsonstarken Liebhaber so in Rage bringt, dass er seinen Nebenbuhler einfach über Bord schmeißt, – bei einem Sturm von Gott weiß wieviel Windstärken -, hat fast etwas Sudermännisches. Auch die herbe und ehrpusselige Cilli Cohrs hat im Grunde das Leben ihres ertrunkenen Mannes mehr auf dem Gewissen als ihr Schwager, seine Fahrlässigkeit, die den Tod des Bruders verursacht, wurzelt in seiner Trunksucht, und sie wurde durch den Korb hervorgerufen, den Cilli ihn gegen ihr innerstes Gefühl gegeben hat. Ihr Verdienst, ihn vom Trunk zu kurieren, ist also nicht ohne selbstsüchtigen Grund. Boßdorfs „Schattenspeel“ aber ist im Grunde nichts als eine Boccacciade, die zwar mit niederdeutschem Humor durchsättigt ist, aber doch auch stark in Pacht zu den Neigungen des großstädtischen Theaterbesuchers steht.

Die Frage ist also: wird es Professor Mensing gelingen, seiner Gesellschaft einen Spielplan zu schaffen, der tatsächlich ursprünglich niederdeutsche Dramatik zur Geltung bringt und wird er eine wirklich im niederdeutschen Wesen wurzelnde Darstellungskunst entwickeln können? Das wird gewiß noch schwere Mühen kosten, so vorzüglich die Leistungen waren, die man am Eröffnungsabend zu sehen bekam. Er selbst ist ein ganz ausgezeichneter Darsteller, wie er die Mischung von brutaler Kraft, offenem Humor und nie versagender Aktivität im Fischer der Doggerbank-Tragödie zum Ausdruck brachte, war ebenso überzeugend wie die stuckohrige Verschlagenheit seines spaßig- ernsthaften Briefträgers im „Schattenspeel“. Beide Gestalten waren meisterhaft charakterisiert, vor allem in der richtigen Verteilung der verhaltenen wie der ausströmenden Energie. Mit voller Seele bei der Sache, äußerlich wie innerlich echt, war auch Herr Günzel als Seefischerknecht in der „Doggerbank“ und als Vogt der Seefischerkasse in „Cilli Cohrs“, zwei gleichfalls meisterlich charakterisierte Figuren, die sich tief einprägten. Das Gleiche lässt sich von dem Landmann des Herrn Martini in „Cilli Cohrs“ sagen. Fräulein Kuhlmanns junger Frau in der „Doggerbank“ fehlte die Dämonie, das giftige Gemisch von Schönheit und verhetzter Bosheit; Herrn Schuberts Fischerjunge war sauber und sorgfältig herausgeputzt. Sehr interessant gab Frl. Ewers die Heldin des zweiten Stücks; auch Herr Friedrich als junger Seefischer bewährte sich während Herr Jessen als „Butenlanner“ von leichter Befangenheit gehemmt wurde, sich voll zur Geltung zu bringen. Auch im „Schattenspeel“ wurde von den Damen Klauß und Dorn sowie von Herrn Tümmler Vortreffliches geboten, von der ersten nach der Seite der Lebenswahrheit hin, während die beiden anderen Darsteller nach dem Willen des Dichters in ihre Figuren die Striche treffsicher hineinzeichneten, die ein Porträt zur Karikatur machen.

Im Ganzen: die Eröffnung der Kieler Niederdeutschen Bühne stand unter günstigen Gestirnen. Möge ihr eine gute Weiterentwicklung beschieden sein! Der Beifall des gedrängt vollen Hauses war stürmisch.“

(Erste Zeitungskritik zur Eröffnung der Niederdeutschen Bühne Kiel, Stadtarchiv Kiel, Kieler Zeitung, 11.04.1921)